Tibetische Sprache
Der tibetischen Geschichtsschreibung zufolge schickte der König Songtsen Gampo (Sroṅ-btsan sgam-po, Regierungszeit ca. 620–649 n. Chr.) seinen Minister Thönmi Sambhota (Thon-mi Sambho-ṭa) nach Indien, um eine Schrift für das Tibetische zu entwerfen und nach Tibet zu bringen; tatsächlich geht die tibetische Schrift auf indische Vorbilder zurück und ist wie diese eine Alphabetschrift. Außerdem soll der Minister Thönmi auch die erste Grammatik der tibetischen Sprache verfasst haben.
Die Einführung der Schrift macht die erste Sprachstufe des Tibetischen greifbar, das Alttibetische. Die ältesten noch erhaltenen Zeugnisse der tibetischen Sprache sind Verträge zwischen China und Tibet, die sich auf Steinstelen aus dem 8. Jahrhundert finden. Als sich das tibetische Reich im 7. Jahrhundert unter Songtsen Gampo ausbildete, gelangte auch der Buddhismus nach Tibet, und mit ihm zahlreiche, vornehmlich religiöse Texte, die meist von Mönchen übersetzt wurden. Sehr bald regelte der tibetische Herrscher diese Übersetzungstätigkeit; es wurden verbindliche Regeln dafür aufgestellt, wie Werke aus dem Sanskrit, der klassischen Sprache Indiens, ins Tibetische übertragen werden sollten.
Diese Texte gingen in zwei große Sammlungen ein, die den buddhistischen Kanon Tibets bilden: die „Übersetzung der Worte des Buddha“, den Kanjur (bKa’-’gyur), und die „Übersetzung der Lehrwerke“, den Tanjur (bsTan-’gyur). Als Übersetzungssprache spiegelt das kanonische Tibetische in Wortschatz und Satzbau Besonderheiten des Sanskrits wieder und beeinflusste nachhaltig den Übergang vom Alt- zum Mitteltibetischen.
Der Zeitraum des Mitteltibetischen reicht vom 11. Jahrhundert bis etwa zum 18. Jahrhundert. Noch im 19. Jahrhundert wurden Texte verfasst, die dieser Sprachstufe zuzurechnen sind. Sie wird als klassische tibetische Schriftsprache bezeichnet, denn während dieser Jahrhunderte entstand der Großteil der tibetischen Literatur. Die größte Schaffensperiode lag zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, einer historisch prägenden Zeit, in der sich in Tibet der Buddhismus endgültig etablierte und Hunderte von Klöstern errichtet wurden. In diese Zeit fällt auch eine wichtige technische Innovation zur Verbreitung von Literatur: Texte wurden nicht mehr nur von Hand abgeschrieben, sondern sie wurden spiegelverkehrt in Holztafeln geschnitzt, von denen mit dem neuartigen Blockdruckverfahren Papierabzüge in beliebiger Anzahl hergestellt und verbreitet werden konnten.
Mit dem Neutibetischen, das etwa ab dem 18. Jh. anzusetzen ist, verbreitete sich, von Zentraltibet ausgehend, eine allgemeine Verkehrs- und Verwaltungssprache; der Dialekt von Lhasa wird heute als moderne Hochsprache betrachtet. Daneben existiert eine große Anzahl lokaler Dialekte.
Die tibetische Sprache gehört zum tibeto-birmanischen Zweig der sino-tibetischen Sprachfamilie. Damit unterscheidet sie sich in ihrer Grammatik und Morphologie grundlegend von den in Europa vorherrschenden Sprachen. Eine Beugung von Wörtern, wie sie aus den indogermanischen Sprachen bekannt ist und hier die Beziehungen der Elemente im Satz anzeigt, ist im Tibetischen wenig ausgeprägt. Die Bezüge der Wörter werden vor allem durch die Wortstellung und Funktionswörter angezeigt, also Suffixe oder Partikeln. Da diese jedoch häufig ausfallen können, sind Sätze oft nur verständlich, wenn ein größerer Kontext berücksichtigt wird. Für linguistische Fragestellungen im Allgemeinen und zur Erhebung des Wortschatzes im Besonderen ist es daher unabdingbar, nicht isolierte Phrasen, sondern Text in größeren Zusammenhängen zu erfassen.